Entwicklungspsychologin Maria Klatte: Fluglärm stört den Unterricht und das Lesenlernen junger Schulkinder!

Maria Klatte ist Außerplanmäßige Professorin in der Arbeitseinheit „Kognitive und Entwicklungspsychologie“ an der RPTU Kaiserslautern-Landau

 
Durch Ihre Forschung haben Sie erwiesen, dass Fluglärm Lernverzögerungen bei Schulkindern verursachen und jede Zunahme des Fluglärmpegels diese Defizite verstärken kann. Welche genauen Ergebnisse haben Sie ermittelt?
Klatte: Vor gut zehn Jahren haben wir eine Studie mit etwa 1200 Kindern im Umfeld des Frankfurter Flughafens durchgeführt, die zu dem Zeitpunkt die zweite Schulklasse besuchten. Diese NORAH-Studie umfasste 29 Grundschulen, die unterschiedlich stark vom Fluglärm betroffen waren – mit Dauerpegeln von 39 bis 59 Dezibel. Dabei haben wir festgestellt, dass der Fluglärm einen negativen Einfluss auf die Lesefähigkeit der Kinder hat. Genauer: jede Steigerung des Lärms um 10 Dezibel verzögerte die Entwicklung der Lesefähigkeit dieser Kinder um einen Monat. Die Kinder in den am stärksten belasteten Schulen lagen also in der Leseentwicklung im Durchschnitt zwei Monate hinter denen aus den am wenigsten belasteten Schulen.
 
Behindert der Lärm denn die Lernentwicklung insgesamt?
Klatte: Nein. Bemerkenswerterweise beeinflusst Fluglärm die Fertigkeiten, die das Lesenlernen erst ermöglichen, nicht. Das haben wir bei Sprachtests festgestellt, in denen wir das Hörverstehen und die Lautverarbeitung testeten. Dabei wurden keine signifikanten Abweichungen festgestellt. Die Verzögerung beim Lesenlernen ist also ein direkter Effekt der Lärmbelastung oder entsteht durch Störungen des Unterrichts.
 
Was Störungen des Unterrichts betrifft: Wie wirkt sich denn der Fluglärm auf die konkrete Situation im Klassenzimmer aus? Sie haben ja auch das Lehrpersonal gefragt, wie ihr Unterrichtsalltag dadurch beeinträchtigt wird…
Klatte: Die Lehrerinnen und Lehrer in den besonders stark belasteten Schulen haben übereinstimmend angegeben, dass der mündliche Unterricht in der Klasse erheblich beeinträchtigt wird. Abgesehen davon, dass die Fenster im Klassenraum nicht geöffnet werden können, der Lärm aber trotzdem deutlich zu hören ist, müssen Unterrichtsgespräche häufig unterbrochen und deren Inhalte wiederholt werden. Die Kinder werden durch die Fluglärmereignisse immer wieder abgelenkt, erschrecken sich und schauen woanders hin. Etwa ein Drittel der Lehrerinnen und Lehrer berichteten auch, dass sie mit ihren Schülerinnen und Schülern seltener nach draußen auf die Sportanlagen oder in den Schulgarten gehen.
 
Wie kann sich das auf die weitere Entwicklung und Lernleistung der Schülerinnen und Schüler auswirken?
Klatte: Die häufigen Unterbrechungen des Unterrichtsflusses sind für junge Kinder sehr ungünstig. Die Aufmerksamkeitsentwicklung ist bei sieben- bis achtjährigen Kindern noch längst nicht abgeschlossen. Daher fällt es besonders ihnen besonders schwer, nach so einer Unterbrechung wieder zurückzufinden in die Aufgabe. Wir nennen das die Reorientierung. Studien, die die langfristigen Folgen dieser Problematik untersuchen, stehen allerdings noch aus. Auch die Frage, inwieweit die permanente Störung der Unterrichtssituation Lernerfolge in anderen Fächern beeinträchtigt – etwa die Rechtschreibung oder die Mathematik – wurde bislang noch nicht betrachtet. Dabei liegen die meisten Daten dafür vor: Wir wissen, wie hoch die Lärmbelastung der einzelnen Schulen ist. Und in den Grundschulen werden regelmäßig Leistungsstudien durchgeführt. Man müsste diese Daten nur auswerten.
 
Nun haben sich ja die Realitäten im Flugverkehr in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stark verändert. Einerseits sind die Flugzeuge leiser geworden, andererseits ist das Verkehrsaufkommen stark gestiegen. Kann man die Auswirkungen dieser Entwicklung auf Lernleistung und Alltag in den betroffenen Schulen feststellen?
Klatte: Die Lärmintensität, also die Dezibelbelastung, ist in dieser Zeit tatsächlich geringer geworden. Das sehen wir auch, wenn wir ältere Studien zum Vergleich heranziehen. Durch die häufigeren Flugereignisse könnte der Schulalltag noch intensiver beeinträchtigt sein als früher. Statt nur auf den Dauerschallpegel zu blicken, sollte die Aufmerksamkeit also auch auf die Zahl der Starts und Landungen gerichtet werden, die über den betroffenen Schulen erfolgen.
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