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Hauptsache, billig

Der Erfolg der Fluggesellschaft Ryanair gründet auf Effizienz und auf Ausbeutung. Jetzt gerät das Geschäftsmodell in Gefahr.

Der Mann, der Europas Reisenden den Billigflug bescherte, ist selbst am liebsten zu Hause auf einem Bauernhof bei seinen vier Kindern. Um abends schneller heimzukommen, hat er eine Taxilizenz erworben. So darf er die Busspur nutzen. Das spart 20 Minuten auf den 100 Kilometern vom Flughafen Dublin zu seinem schlossähnlichen Anwesen Gigginstown. Ryanair-Chef Michael O`Leary genießt die ländliche Idylle.

Die mehr als 8.000 Mitarbeiter seiner Airline leben nicht nur weitaus weniger luxuriös. An manchen Tagen wird das Leben für sie bei Ryanair regelrecht zur Hölle. Etwa am 4. Juli. Um 12 Uhr versammeln sich in der Ryanair-Basis in Weeze am Niederrhein zwei Dutzend Piloten. Ihr Arbeitgeber hat eine Personalversammlung einberufen, die Einladung kam 24 Stunden zuvor per Intranet.

Der aus Dublin gesandte Manager kommt laut Schilderungen von Teilnehmern schnell zum Punkt: Für den Winter plane Ryanair mit 40 Piloten weniger am Standort. Für die Beschäftigten gebe es drei Optionen: unbezahlten Urlaub, Teilzeitarbeit, Standortwechsel. Wer sich nicht binnen einer Woche entscheide, werde gefeuert oder "überflüssig" gemacht. Memos oder andere Dokumente gebe es nicht zu der Sache. Die Neuigkeiten sollten sich mündlich verbreiten. Ryanair bestätigt, dass es eine Personalversammlung gab, äußert sich aber nicht zu Details.

Früher war O`Leary der Steuerberater des Airline-Gründers Tony Ryan

Ryanair steckt nicht in einer Krise, im Gegenteil. Im Geschäftsjahr bis Ende März verdiente das Unternehmen so viel Geld wie keine andere europäische Fluglinie. Der Gewinn nach Steuern betrug 569 Millionen Euro, der Umsatz knapp fünf Milliarden. Die Aktionäre sollen nun eine Milliarde Euro bekommen - in Form von Dividenden und Aktienrückkäufen.

Es scheint, als sorgten sich nur andere um ihre Zukunft. Lufthansa oder Air France etwa, die Milliarden einsparen müssen. Ausgerechnet in Paris hat Ryanair 175 neue Boeing-Flugzeuge bestellt. Während die Passagierzahlen von Air Berlin schrumpfen, will Ryanair 2013 rund neun Millionen Passagiere in Deutschland transportieren, 80 Millionen in ganz Europa, mehr als jede andere Fluggesellschaft, und das mit einem stabilen Wachstum von drei Prozent.

Seit 20 Jahren steht O`Leary an der Spitze von Ryanair. Der inzwischen verstorbene Unternehmensgründer Tony Ryan förderte den Mann, der einmal sein Steuerberater und Vermögensverwalter gewesen war, und machte ihn zum Chef der Airline. Früher orientierte sich Ryanair an Aer Lingus und British Airways. "Es ging darum, möglichst hohe Preise zu verlangen", sagt O`Leary heute.

Erst als Ryanair konsequent auf günstige Tarife setzte, kam der Erfolg, von dem besonders der Chef selbst profitiert. O`Leary gehören rund vier Prozent der Aktien, sein Vermögen beträgt heute mehr als 350 Millionen Euro. Ein Flugbegleiter verdient in seinem Unternehmen dagegen in manchen Wintermonaten nicht mehr als 900 Euro.

Bislang hat O`Leary mit geschicktem Marketing ein Unternehmensbild geschaffen, wonach Ryanair dank schneller Betriebsabläufe und einem Flugbetrieb abseits der großen, teuren Drehkreuze zur größten Fluggesellschaft Europas aufgestiegen sei. Tatsächlich sind die Erfolge von Ryanair aber auch das Ergebnis einer gnadenlosen Sparpolitik zulasten von Mitarbeitern und Steuerzahlern.

Nun gerät dieses Geschäftsmodell in Gefahr. Zum ersten Mal in der Unternehmensgeschichte setzen sich die Mitarbeiter zur Wehr und organisieren sich. Die Pilotengewerkschaften sind zuversichtlich, dass sich Flugkapitäne und -offiziere nun zusammentun und für weniger Arbeit und höhere Löhne streiken werden. Beim Kabinenpersonal ist die Stimmung ohnehin am Boden. Viele Mitarbeiter müssen höhere Sozialabgaben zahlen, weil neue europäische Regeln für Kabinenpersonal in Kraft traten. In Frankreich laufen deshalb Prozesse.

Hinzu kommt, dass die Zukunft der Regionalflughäfen, die für den Erfolg des Billigfliegers wichtig sind, ungewiss ist. Gerade haben die Brüsseler Wettbewerbshüter schärfere Vorgaben für Staatshilfen an diesen Flughäfen vorgestellt. Viele wären ohne Subventionen nicht überlebensfähig. Von Ryanair allein können sie kaum leben. Ryanair wiederum wird ohne subventionierte Flughäfen seine Kampfpreise kaum halten können. Indirekt kommen die Steuersubventionen also der Fluggesellschaft zugute.

O`Leary klingt bisweilen wie ein Diktator

Die größere Gefahr droht Michael O`Leary derzeit allerdings von dem gewachsenen Unmut der Mitarbeiter. Der könnte sich bald schon Bahn brechen. Im Tagungshotel Klostergarten in Kevelaer nahe Weeze trafen sich vorvergangene Woche 25 Piloten. Sie wollen etwas unternehmen gegen den unbezahlten Urlaub, die Teilzeitarbeit, den Standortwechsel, den das Management Anfang Juli erzwingen wollte. Die Ryanair Pilot Group (RPG), eine Initiative europäischer Pilotengewerkschaften, hat Berater geschickt. "Ich habe nichts mehr zu verlieren, ich will die Gewerkschaft", sagt ein junger Pilot in Weeze.

Die RPG hat vor zwei Wochen ihren ersten Interimsrat gewählt. Nach Angaben der Organisation sind bereits mehr als 50 Prozent der rund 3500 Ryanair-Piloten Mitglied. Evert van Zwol, Vorsitzender des vorläufigen Führungsgremiums der RPG, sagt: "Unter den Piloten herrscht großer Enthusiasmus." Konflikten mit Ryanair will er nicht aus dem Weg gehen: "Sollte das Management die RPG nicht als Verhandlungspartner akzeptieren, werden wir reagieren. Am Ende auch mit Streiks."

Die Ryanair Pilot Group - eine Gewerkschaft für Ryanair? Für Michael O`Leary unvorstellbar. In einem Interview mit der ZEIT Ende Mai sagte er gar: "Die RPG existiert nicht." Der Unternehmenschef hält ganz generell nichts von Gewerkschaften, weil "sie sich dem Wandel verweigern, selbst wenn der notwendig ist", wie er meint.

O`Leary klingt bisweilen wie ein Diktator. Er selbst sieht sich eher als Menschheitsbeglücker. "Wir haben das Fliegen demokratisiert", sagt er. Heute stiegen nicht mehr nur die Reichen ins Flugzeug, sondern auch die Schuhputzer aus dem Flughafenterminal. "Sie können sicher und pünktlich für 30, 40 Euro durch Europa fliegen und müssen nicht mehr 300 Euro zahlen", sagt er.

Tatsächlich haben günstige Ticketpreise die Welt etwas verändert. Fernbeziehungen zwischen Rom und Köln sind einfacher geworden. Der Junggesellenabschied findet nicht mehr in der Nachbarkneipe, sondern auf Mallorca statt. Die eigene Ferienwohnung suchen sich Beamte nicht mehr nur an der Ostsee, sondern in ganz Europa.

Intern geht es deutlich weniger demokratisch zu. Für ein Gespräch mit der ZEIT in Dublin lässt der Ryanair-Chef fast die komplette Vorstandsspitze antreten. Einen einfachen Mitarbeiter in der Zentrale zu sprechen, das geht dagegen nicht. Wenn einer spreche, dann Mol, heißt es aus der Pressestelle. Mol, so nennen sie Michael O`Leary.

Der 52-Jährige, der als Kind eine Jesuitenschule besucht hat, erregt gerne Aufmerksamkeit, wenn es dem Unternehmen nützt. Einst kündigte er freie blow jobs in der Businessclass an, sollte sein Unternehmen einmal Langstreckenflüge anbieten. Spricht er über Konkurrenten, fällt häufig der Ausdruck fuck. Kein Gag ist O`Leary zu dämlich, solange er Ryanair ins Gespräch bringt. Immer wieder kolportiert er Geschichten über Toilettengebühren im Flugzeug und Zuschläge für Dicke.

Viele der Piloten arbeiten offiziell als Selbstständige

Um Aktionäre und Analysten zu ködern, setzt er gerne große Zahlen in die Welt. "Wir werden die Passagierzahlen in den nächsten Jahren auf 100 Millionen erhöhen", kündigte er Ende Mai an. Drei Wochen später versprach er den Investoren sogar 110 Millionen. Für Fotos legt O`Leary sofort den Arm um jeden Gesprächspartner. Dabei hat dieser Mann, der gerne in Turnschuhen, Bluejeans und mit hochgekrempelten Hemdsärmeln auftritt, wenig Freunde in seinem Job. Weder in der Branche noch in der Politik. Und schon gar nicht bei den Mitarbeitern.

"O`Leary ordnet der Rendite alles unter", sagt der in Weeze stationierte Pilot Lars Christensen. Die Beschäftigten und ihre Familien müssten darunter leiden. Der junge Mann mit nordeuropäischen Wurzeln will nicht mit seinem wirklichen Namen in der Zeitung stehen. Er fürchte die umgehende Entlassung.

Christensen schildert, wie die Ausbeutung im Unternehmen funktioniert. Er ist nicht bei Ryanair angestellt, sondern über die Agentur Brookfield Aviation vermittelt. Ein Leiharbeiter, der kaum Rechte hat. Auch Brookfield Aviation hat ihn nicht eingestellt. Vielmehr wurde von ihm erwartet, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Dazu wurden ihm drei Steuerberater empfohlen, die mit Brookfield kooperieren. Nun ist er selbstständiger Unternehmer in Irland. Zum Schein hat er eine Sekretärin, Angestellte und weiteres Personal. Er hat diese Menschen aber nie gesehen. Alles was er tut, ist fliegen.

"Ich kann mir kaum vorstellen, dass das legal sein soll", sagt Christensen. Womöglich hat er recht. In Koblenz ermittelt die Staatsanwaltschaft bereits wegen Scheinselbstständigkeit gegen Piloten. Entsprechende Verfahren gegen Ryanair wurden allerdings eingestellt. Die Fluggesellschaft kommentiert dies nicht. Brookfield Aviation mag sich auch nicht näher äußern, sondern teilt nur mit, dass die Verträge geltendem EU-Recht entsprächen.

An den anderen der mehr als 50 Ryanair-Basen in Europa läuft es so oder ähnlich. Da gibt es zum Beispiel Karl Lewandowski. Der Pilot ist Mitte 30 und seit fünf Jahren direkt von Ryanair angestellt. Lewandowskis Eltern haben für ihren Sohn einen Kredit aufgenommen, damit der die Ausbildungskosten von 80.000 Euro bezahlen konnte. Er selbst zahlt heute für die Uniform, die Hemden und an Bord - wie jeder Passagier - drei Euro für den Kaffee.

Auch Lewandowski heißt in Wirklichkeit anders, auch er hat Angst vor Mol. Den nennt er ein "Genie ohne menschliche Gefühle".

Der junge Pilot klagt über die Ungewissheit, die seinen Alltag prägt. Mit jedem Flugplan droht ihm ein Umzug zu einer anderen Basis. Über die Zahl seiner Flugstunden bestimmt das Management, dessen Willkür er sich ausgeliefert fühlt. Nur die Hälfte seines Gehalts ist fix. Vor jedem Flug arbeitet Lewandowski 15 bis 30 Minuten ohne Bezahlung, weil er früher kommt, als der Plan vorsieht. "Anders ist es aber nicht zu schaffen", erklärt er, "denn in dieser Zeit muss ich Wetter und Flugplan analysieren, Informationen über das Verkehrsaufkommen sammeln und am Ende die Entscheidung treffen, wie viel Kerosin ich tanke."

Der Druck auf die Piloten ist enorm. Auf das Kerosin entfällt die Hälfte der Kosten des Flugbetriebs - und O`Leary hasst Kosten. Damit die Piloten möglichst wenig Treibstoff an Bord haben, veröffentlicht Ryanair Tabellen, welche Piloten wenig verbrauchen und welche viel. Der Chefpilot von Ryanair schrieb 2010 eine E-Mail an die Piloten, die der ZEIT vorliegt. Darin heißt es: "Der Zweck der Tabelle ist, den Fokus auf unseren größten Kostenblock, das Kerosin, beizubehalten."

"Wenn Ryanair uns nicht anerkennt, bummeln wir auf der Piste"

Ryanair hält sich dabei an die gesetzlichen Vorgaben. Jeder Pilot hat stets so viel Kerosin an Bord, dass der Sprit mindestens für eine halbe Stunde extra in der Luft reicht. Aber wehe, es passiert Unvorhergesehenes: Vergangenen Sommer mussten gleich drei Maschinen nach einem Unwetter in Spanien notlanden. "Bei schwierigen Wetterverhältnissen nimmt die Lufthansa sicher noch zwei Tonnen extra mit. Wir höchstens die Hälfte. Die Piloten fürchten sich, noch mehr zu tanken", sagt Lewandowski. Immer wieder kam es zu Notlandungen, weil der Sprit nicht ausreichte.

O`Leary verteidigt die Verbrauchstabellen: "Wir wollen unsere Piloten dazu anhalten, eher langsam als schnell zu fliegen, denn das ist sicherer." Erfahrene Piloten und Sicherheitsexperten halten diese Behauptung für "an den Haaren herbeigezogen". Der Ryanair-Chef weist auch andere Vorwürfe von sich: "Wenn Piloten am Ende der Tabelle stehen, dann bekommen sie keine Verwarnungen."

Lewandowski hingegen berichtet, dass Kollegen einen Brief bekamen, der "dann auch in der Personalakte landete". Wem das öfter passiere, der habe keine Chancen, in der Hierarchie nach oben zu kommen. Es seien auch schon Kollegen zum Rapport nach Irland zitiert worden. Ryanair streitet all dies ab.

Unter den rund 3.500 Piloten sind die ersten und zweiten Offiziere fast komplett über Agenturen wie Brookfield angestellt. Sie erhalten nur eine variable Vergütung und kein Fixgehalt. Nur die Kapitäne haben in der Mehrzahl direkt mit Ryanair Arbeitsverträge geschlossen.

Vor wenigen Wochen ist Lewandowski in ein Hotel gefahren und hat sich mit Kollegen getroffen. "Wir werden uns organisieren", sagt er. "Und wenn Ryanair uns nicht anerkennt, dann fliegen wir langsamer, wir bummeln auf der Piste, und am Ende werden wir streiken."

Sollte es dazu kommen, kann O`Leary nicht weiter wirtschaften wie bisher. Personalchef Edward Wilson räumt offen ein: "Wenn die gleichen Arbeitsbedingungen, die unsere Wettbewerber mit Gewerkschaften ausgehandelt haben, auf uns übertragen würden, würde unser Geschäftsmodell nicht mehr funktionieren." Bislang brüstet sich Ryanair damit, 80 Prozent weniger Personalkosten zu haben als easyJet. Die Personalkosten von Air Berlin sind - auf den Passagier bezogen - dreimal höher.

Jakob Schneider sorgt mit seinem Arbeitsvertrag dafür, dass dies so bleibt. Er ist ein hagerer Typ aus Osteuropa, keine 30 Jahre alt und Flugbegleiter an einem deutschen Standort von Ryanair. Seit Kurzem muss Schneider viel höhere Sozialabgaben zahlen, weil er wegen neuer gesetzlicher Regelungen dem deutschen Sozialversicherungsrecht unterliegt: "Mein Nettogehalt in guten Monaten ist von 2.000 Euro auf 1.500 Euro gesunken." Er lässt sich nun von einem Anwalt beraten.

In anderen Ländern laufen bereits Verfahren gegen Ryanair. In Frankreich forderten Staatsanwälte die Konfiszierung von vier Flugzeugen, da Ryanair keine Sozialabgaben gezahlt hatte, in Norwegen klagten Flugbegleiter gegen ihre Arbeitsbedingungen.

Schneider (auch er will anonym bleiben) zeigt einen Arbeitsvertrag mit Crewlink. Über diese irische Agentur sind Tausende Ryanair-Flugbegleiter angestellt. Für die Ausbildung hat Schneider rund 3.000 Euro gezahlt. Zum Dank bekam er einen Knebelvertrag. Von heute auf morgen könnte Schneider von Bremen nach Dublin oder Charleroi versetzt werden. Ryanair kann ihn in einen unbezahlten Urlaub schicken - und macht davon in jedem Winter Gebrauch. "Es kam schon vor, dass ich 900 Euro im Monat verdient habe", sagt Schneider. Bezahlt wird auch er vor allem variabel und nur für die Flugzeit.

Verspätungen kosten jeden Mitarbeiter bares Geld. Sollten die Passagiere trotz Kontrollen zu viele Gepäckstücke mit an Bord haben, kommt kaum ein Flugbegleiter auf die Idee, diese wieder ausladen zu lassen. Es wäre zwar sicherer, aber "es kostet Zeit", sagt Schneider.

(Die Zeit, Ausgabe 30/2013)