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Ein Dorf hebt ab

Kursdorf bei Leipzig ist der einzige Ort Deutschlands, der mitten in einem Flughafen liegt. Jetzt droht weiterer Ausbau. Die 197 Bewohner träumen davon, ihr Dorf anderswo neu zu errichten.

Von Ulla Hanselmann

Erhard Haferkorn stapft über gepflegten Rasen, vorbei an den Obstbäumen, hinter denen eine dunkle Wand aufragt. Seit der ehemalige Ingenieur Rentner geworden ist, verbringt er noch mehr Zeit im eigenen Grün. "Meine Frau und ich sind Gartenmenschen", sagt er. Die Kirschbäume haben üppig geblüht in diesem Frühjahr, wie die Apfel- und Birnbäume, sie blühten noch prächtiger als sonst. Die Haferkorns wohnen schon seit 21 Jahren hier, aber diesmal können sie sich nicht richtig auf die Ernte freuen, nicht mal auf die Erdbeeren, die bald reif sein werden. Die Ernte wird für sie die letzte sein in diesem Garten.

Die dunkle Wand hinter den Bäumen versperrt den Blick nach Süden. Ein Rauschen liegt in der Luft. Der Garten, das Haus der Haferkorns mit seinem Klinkersockel und seinem graubraunen Putz, die Häuser drumherum – all dies ist abgeschirmt von einem Erdwall, auf dem ein massiver Bretterzaun aufragt. Der Wall ist zehn Meter hoch, und er umgibt den südlichen Teil des Dorfs wie eine Mauer. Er soll Lärm abhalten von Brita und Erhard Haferkorn und ihren 195 Nachbarn im sächsischen Kursdorf. Aber Lärm ist flüchtig, nie völlig aufzuhalten, diese Lektion haben die Haferkorns über Jahrzehnte lernen müssen, während der Lärm hinter dem Erdwall immer weiter anschwoll. Manchmal mussten sich die Haferkorns bei der Obsternte anbrüllen, um sich zu verständigen. "Wir haben uns entschieden", sagt Erhard Haferkorn, 66 Jahre alt, sein Gesicht ist wettergegerbt. Es ist ihm anzusehen, dass die Entscheidung nicht leicht war. "Wir ziehen hier weg."

Er bleibt stehen, horcht in das Rauschen hinein. Doch gerade ist nur das Jaulen von Ottomotoren zu hören, das Bollern von Autoreifen auf der nahen Autobahn. Jeden Moment könnten Turbinen aufheulen, könnte ein Flieger starten hinter dem Lärmschutzwall, denn dort liegt der Flughafen Leipzig-Halle. Die Haferkorns teilen ihre Idylle jeden Tag mit 40000 Fahrzeugen auf der Autobahn Magdeburg–Dresden; mit 100 Fern- und Regionalzügen, die auf der Bahnstrecke neben der Autobahn rollen – vor allem aber mit Dutzenden von Flugzeugen, die Tag und Nacht neben ihrem Haus starten und landen, im Durchschnitt 72 pro Tag.


Die Fenster bleiben geschlossen, wegen des Kerosingestanks


Kursdorf bei Leipzig ist der einzige Ort in Deutschland, der mitten in einem Flughafen liegt. Das Dorf ist eingekreist von Terminalgebäuden, Towern und Parkplätzen, ein kleiner grüner Fleck inmitten von Betonschneisen. Im Süden und Norden schneiden Start- und Landebahnen die Hand voll Häuser von der Umgebung ab; die Trassen zwischen den Rollbahnen riegeln das Dorf auch nach Westen und Osten ab. Die Haferkorns radeln und wandern gern. Wollen sie das Dorf verlassen, müssen sie nach Osten fahren, unter einer Brücke hindurch, über die Flugzeuge rollen. "Dieses Abgeschnittensein ist eigentlich schlimmer als der Lärm", sagt Erhard Haferkorn. Wenn im Dorf ein Hund bellt, ist er zweimal zu hören, wegen des Echos, das die Lärmschutzwand zurückwirft. Abends schieben sich die Haferkorns Wachspfropfen in die Ohren. Sie sind das gewohnt, wie alle Kursdorfer; im Sommer schließen sie die Fenster, wenn der Wind den Kerosingestank in den Garten treibt. "Der Geruch ist kaum mehr auszuhalten."

Auf der Website, mit der sich Kursdorf im Internet präsentiert, heißt es zu der einzigartigen Lage des Dorfes lakonisch: "Kursdorf ist eine idyllisch gelegene 197-Seelengemeinde am westlichen Rand von Sachsen, sorgsam umschlossen von den beiden Start- und Landebahnen des Flughafens Leipzig-Halle, einer IC-Strecke und dem Schkeuditzer Autobahnkreuz."

Die Haferkorns haben in all den Jahren viel investiert in ihr Haus. Sie würden durchhalten, wenn bald nicht alles noch schlimmer würde. Die südliche Rollbahn soll erneuert und verlängert, die Frachtabfertigungszone um ein Vielfaches vergrößert werden; der Planfeststellungsantrag liegt bereits beim Leipziger Regierungspräsidium. Die Flughafen-GmbH verspricht sich einen wichtigen Standortvorteil im Wettbewerb der deutschen Luftdrehkreuze, heißt es in einer Pressemitteilung. Die Betreiber des Flughafens haben sich zwar stets bemüht, den Dorfbewohnern ihr Leben erträglich zu machen; Schallschutzfenster wurden bezahlt, und wer wollte, konnte sich auch eine Lüftung im Schlafzimmer installieren lassen. Dazu kamen 5000 Euro "Außenlärmentschädigung" für jeden Grundstückseigentümer. Aber noch einmal Baumaschinen, noch einmal Baulärm – und irgendwann dann noch mehr Flieger, 100 Meter hinter der Schallschutzwand? Es ist einfach zu viel.

Dabei finden die Haferkorns "Fliegen eigentlich toll", waren selbst schon in Marokko, Kroatien und Kenia. Es ist nicht ihre Art zu jammern. Aber ihre Kraft ist aufgebraucht. Bei Leipzig bauen sie jetzt ein neues Haus. Sie wissen nicht, was aus dem alten wird. Keines ihrer drei Kinder will es übernehmen, und auf dem freien Markt findet sich kein privater Interessent. Sie haben bei der Flughafengesellschaft angefragt, die schon viele Grundstücke in Kursdorf gekauft hat. Sie bietet zu wenig, finden die Haferkorns, das ärgert sie. "Der Flughafen ist doch schuld, dass der Wert des Hauses so stark gefallen ist", sagt Brita Haferkorn. Sie ist 60 Jahre alt, Rathausangestellte in Schkeuditz. Ende des Jahres geht sie in Pension.


In ein bis zwei Monaten sind sie hier weg. Ihr Mann schließt die Haustür, sperrt das Rauschen aus.


Auf der Straße vor dem Haus ist kein Mensch zu sehen. Ab und an schiebt sich ein Auto vorbei. Viele Häuser tragen noch den graubraunen Putz der DDR-Jahre. Es gibt keinen Bäcker, keine Post, keine Schule, keinen Kindergarten, aber eine Autowerkstatt, eine Gärtnerei und eine Firma, die Fechtzubehör vertreibt. Zweimal in der Woche kommen ein Bäcker und ein Lebensmittelhändler mit ihren Lieferwagen, der Metzger kommt nur einmal. Die Gaststätte Villa Mykonos ist verschlossen, obwohl sie laut Aushang geöffnet haben müsste. Kursdorf ist ein Schlafdorf; die meisten Bewohner arbeiten auswärts, viele am Flughafen. Am Abend schließen sie ihre Autos in Garagen ein oder in von hohen Zäunen abgeschirmte Höfe.

Der Weg zum Hotel führt an der Kirche vorbei, einem gedrungenen Feldsteinbau aus dem frühen 14. Jahrhundert; nur einmal im Monat ist sonntags Gottesdienst. Das Hotel liegt am Rand des Dorfs. Je näher man ihm kommt, desto schärfer klingt das Heulen der Fahrzeuge auf der nahen Autobahn. Nur ein paar hundert Meter Wiese trennen sie von den riesigen blauen Lettern an der Fassade: Friendly Hotel. Wenn man vor der Haustür steht und per Sprechanlage um Einlass bittet, muss man schreien, um verstanden zu werden.

Vom dort sind es zu Fuß nur ein paar Minuten hinüber zum neuen Terminal. Davor, hell erleuchtet, liegen riesige Parkplatz-Areale. Das lang gestreckte Abfertigungsgebäude mit seinen gerundeten, gläsernen Fassaden ruht auf schweren Stahlträgern. An der Nordflanke schließt sich der neue Flughafenbahnhof an, weiße Kunststoffsegel überspannen die Bahngleise. So unwirtlich Kursdorf gelegen sein mag, verkehrstechnisch ist der Ort hervorragend erschlossen. Weg kommt man immer, witzeln die Kursdorfer.


Früher wurde es nur während der Leipziger Messe laut


Heino Neumann gehört zu jenen, die sich nie träumen ließen, dass sie jemals ihre Koffer packen könnten. Er wohnt am alten Schulplatz, nicht weit vom Hotel entfernt. Morgens setzt er Roggenbrotteig an, den Rest erledigt das elektrische Brotbackgerät. "Wasser rein, Teig rein, fertig", sagt er und zieht an seiner Filterzigarette. Neumann ist 48 Jahre alt, trägt eine blaue Trainingshose. Nachmittags wird er zur Spätschicht in die Spedition im benachbarten Gewerbegebiet aufbrechen.

Er ist noch länger in Kursdorf als die Haferkorns, seit 26 Jahren. Seine Frau ist hier geboren. Anfang der achtziger Jahre kauften sie ein altes Gehöft aus dem 19. Jahrhundert und richteten es her. Das zugehörige Grundstück ist 3000 Quadratmeter groß. Neumann zeigt Besuchern gern den Wintergarten, der voller Kakteen steht. "Der Platz in unserem Innenhof ist sogar groß genug für ein Schwimmbecken. Wir stellen es auf, sobald es wärmer wird." Es ist stiller als im Garten der Haferkorns, das ist den alten Stallgebäuden drum herum zu verdanken, sie halten den Lärm ab. Natürlich ärgert auch Neumann sich über den Flughafen, über den Krach, das Kerosin. "Aber alles in allem", resümiert er, nachdem er wieder auf seine Kücheneckbank gerutscht ist, "haben wir uns hier immer wohl gefühlt."

Neumann hat die meiste Zeit seines Lebens in Kursdorf gewohnt, nachdem er im Alter von 22 Jahren aus Leipzig hierher zog – er ist in die Absonderlichkeit des Orts hineingewachsen. Zu DDR-Zeiten gab es den Flughafen zwar bereits; die Südbahn wurde 1960 gebaut. Damals starteten aber ganz selten Flieger. Nur zweimal im Jahr, wenn in Leipzig Messe war, wurde es im Dorf ein bisschen lauter. Um in die nächste Kreisstadt, nach Schkeuditz, zu kommen, liefen die Kursdorfer über die südliche Rollbahn, das war der kürzeste Weg. Heute steht da die Lärmschutzwand und davor noch ein weiterer Zaun. Er vereitelt jeden Kletterversuch mit Hilfe von Stacheldraht.

Nach der Wende verschwanden der Dorf-Konsum, die Post, die Ambulanz. Viele der damals 250 Kursdorfer gingen nach Westen; die Zahl der Einwohner schrumpfte um ein Viertel. Aber für Kursdorf änderte sich noch mehr: Die Flugzeuge flogen von nun an immer häufiger. Beförderten sie 1990 noch 275000 Passagiere, waren es zwei Jahre später schon eine Million. Und die Flughafen-Gesellschaft trieb den Ausbau des Geländes voran. Zuerst entstanden ein neues Terminal und ein Blockheizkraftwerk. Anfang 2000 hoben die ersten Maschinen von der Landebahn Nord ab. Vergangenen Sommer eröffneten das "Zentralterminal" und der Flughafenbahnhof. Zwei Millionen Passagiere starten heute pro Jahr in Leipzig-Halle, und die Kapazitäten sind noch nicht einmal ausgeschöpft.

Mitte der neunziger Jahre hatten sich die Kursdorfer zuerst noch gegen Ausbaupläne gewehrt, da ging es um die Nordlandebahn. Dann hätten sie darauf vertraut, erzählt Heino Neumann, dass die neue Rollbahn die viel lästigere, näher an ihren Häusern gelegene südliche Bahn deutlich entlasten würde. Doch gerade diese plagt die Dorfbewohner heute am meisten. Nachts ließen Frachtflugzeuge dort die Turbinen warm laufen, empört sich Neumann; die laut Statistik kleine Zahl der Nachtflugbewegungen täusche. Aber sollte er deshalb einfach seine Siebensachen packen, das Haus verkaufen und gehen, wie die Haferkorns?

Heino Neumann lässt den Gedanken an einen Umzug nicht so leicht an sich heran. Er hat etwas zwischen sich und diesen Gedanken gestellt – die eigenen vier Wände, den Wintergarten. Und da sind ja auch noch die Freunde im Dorf. Neumann nimmt einen Fotokalender von der Küchenwand, die Aufnahmen hat ein Freund gemacht. Die Bilder erinnern an die sozialen Höhepunkte im Kursdorf des Jahres 2003, an das Campen zu Pfingsten, an die laue Sommernacht, in der man spontan auf dem Schulplatz grillte, an das große Dorffest, das die drei Vereine auf dem Sportplatz des FSV Kursdorf 58 wie jedes Jahr organisierten.


Alle finden, der Flughafen soll das neue Dorf bezahlen


Doch die neuen Erweiterungspläne für die "Südplatte", wie Neumann die alte Rollbahn nennt, haben selbst seinem Optimismus einen schweren Knacks versetzt. "Dann würde die Lebensqualität ja noch weiter runtergeschraubt. Wenn es so kommt wie geplant und die uns vollends zubauen, gehen auch meine Frau und ich." In einer Meinungsumfrage haben sich fast alle Bewohner dafür ausgesprochen, gemeinsam fortzuziehen – in ein neues, besseres Kursdorf, das an einem anderen Ort neu entstehen soll. Die Umsiedlung bezahlen soll der Flughafen. Man ist dabei, über einen Anwalt mit dem Airport zu verhandeln.

Neumann macht sich keine großen Hoffnungen. "Ein ganzes Dorf zu verpflanzen ist sicher nicht so einfach. Da muss man ja erst mal einen Platz finden." Und ob der Flughafen wirklich bereit ist, so viel Geld auszugeben? Trotzdem beflügelt die Aussicht, "in vielleicht sechs, sieben Jahren endlich Ruhe zu haben", gehörig seine Fantasie. Ein kleineres Gründstück wäre bestimmt zu verkraften. Neumann würde sich auch von ein paar sperrigen Dingen trennen, alles nicht so wichtig. Nur den Wintergarten, den hätte er gern wieder.

((c) DIE ZEIT 03.06.2004 Nr.24)